TU Graz

Hinweis:

Das ist ein alter - nicht mehr gewarteter - Artikel des AEIOU.

Im Austria-Forum finden Sie eine aktuelle Version dieses Artikels im neuen AEIOU.

https://austria-forum.org Impressum

bm:bwk
Österreich Lexikon
Österreich Lexikon
home österreich-alben suchen annotieren english
A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z


Mühlviertel - Mundartdichtung (25/25)
Münch-Bellinghausen, Friedrich Mühlviertel - Mundartdichtung

Mundartdichtung


Mundartdichtung (auch Dialektdichtung), Literatur, die im bewussten Gegensatz zur hochsprachlichen und überregionalen Dichtung in einer bestimmten Mundart (Dialekt) verfasst ist. Von einer Mundartdichtung im eigentlichen Sinne kann daher etwa erst ab der Zeit Luthers (1. Hälfte 16. Jahrhundert) gesprochen werden, da bis zu dieser Zeit keine überregionale, einheitliche deutsche Schriftsprache existierte. Dieses Verhältnis Schriftsprache - Dialekt wird als "Diglossie" bezeichnet; allerdings ist zu beachten, dass die Mundartdichtung oft nur noch "simulierter" Dialekt ist und daher mit der authentisch gesprochenen Mundart eines Gebiets nicht ident ist.

Mit der Ausformung des schriftsprachlichen Standards geriet der Dialekt allmählich in den Ruf, die Sprache der ungebildeten, sozial deklassierten Schichten zu sein; sein Gebrauch in der "hohen" Literatur wurde verpönt. Seinen Platz behielt er nur im Drama, wo ihm die Funktion zukam, gewisse Sprecher (vor allem Bauern) milieugerecht zu charakterisieren und komisch-parodistische Wirkungen zu erzielen. Einen ersten Höhepunkt erreichte die österreichische Mundartdichtung so im possenhaften, aus dem mittelalterlichen Fastnachtsspiel und der Commedia dell´arte entstandenen Hanswurstspiel. Dessen Held, der von J. A. Stranitzky geschaffene Hanswurst, ein "Salzburger Sau- und Krautschneider", spielt seinen derben Salzburger Bauerndialekt geschickt gegen die pathetische Hochsprache aus und entlarvt die Hohlheit der Phrase. Unter Stranitzkys Nachfolgern G. Prehauser und J. F. von Kurz wandelt sich die Salzburger Mundart in den Wiener Dialekt, Wortspiele und geistreiche Pointen rücken in den Mittelpunkt, wie dies für die Altwiener Volkskomödie (P.Hafner, A. Bäuerle, K. Meisl, J. Gleich) sowie für die sprachlich vielschichtigen Stücke J. Nestroysund F. Raimunds von nun an typisch sein sollte.

Als 2. Zentrum der Mundartdichtung kristallisierte sich im 18. Jahrhundert Oberösterreich heraus. Zum Begründer der oberösterreichischen Dialektdichtung wurde der Jesuit und Aufklärer Maurus Lindemayr, der in seinen Komödien, Singspielen und Travestien Hochsprache und Mundart ebenfalls kontrapunktisch einsetzte. Die "obderennsische Mundart" wurde durch Lindemayr zum Begriff; an ihn knüpften im 19. Jahrhundert die oberösterreichischen Dialektdichter wie Karl Adam Kaltenbrunner (1804-1867) und vor allem F. Stelzhamer ("Lieder in obderenns´scher Volksmundart", 1837) an.

Inzwischen hatte die Mundartdichtung beträchtlich an Ansehen gewonnen. Das durch J. G. Hamann, J. G. Herder und die Romantiker neu geweckte Interesse am Dialekt als Sprache des Volks führte dazu, dass ihm schwärmerisch eine neue Qualität zugesprochen wurde: Ursprünglichkeit, idyllisch anmutende Volksnähe und Lokalkolorit. Zum Anreger der Mundartdichtung des österreichischen Biedermeier wurde I. F. Castelli (Gedichte in niederösterreichischer Mundart, 1828); sein "Wörterbuch der Mundart in Österreich unter der Enns" (1847) gab zudem der philologischen Auseinandersetzung mit dem Dialekt einen wichtigen Impuls. Zum bedeutendsten niederösterreichischen Mundartdichter wurde J. Misson ("Da Naz, a niederösterreichischer Bauerbui, geht in d´Fremd", 1850); die steirische Mundartdichtung wurde in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts von P. Rosegger ("Zither und Hackbrett", 1869) geprägt; das "volkstümliche" Schreiben in der Mundart eroberte endgültig das bürgerliche Lesepublikum der großen Städte; die Produktion von Mundartdichtung wurde zum anerkannten Literaturzweig. L. Anzengruber feierte mit einem nachempfundenen Dialekt in seinen Stücken und Romanen große Erfolge, in Tirol war es wenig später K. Schönherr, der der Mundartdichtung ("Inntaler Schnalzer", 1895 usw.) zur weitreichenden Popularität verhalf. Der Kärntner K. Morré verfasste ein "Kärntner Sprach- und Konversationslexikon", in Salzburg waren O. Pflanzl ("Salzburger Nockerl", 1910 usw.) und K. Prisner ("Salzburgische Hoamatg´sangeln", 1930) erfolgreich.

Die Heimatkunstbewegung verlieh der Mundartdichtung einen weiteren Impetus; bei zahlreichen Autoren wurde der Dialekt allmählich in den Dienst einer antimodernen, kulturpessimistischen Schreibhaltung gestellt, die ihr Extrem schließlich im Provinzialismus der Ständestaat-Literatur bzw. in der heroisierenden Bauernsprache der Blut-und-Boden-Literatur fand (J. G. Oberkofler). J. Weinheber verhalf dem Wiener Dialektgedicht zu neuer Beliebtheit ("Wien wörtlich", 1935); gleichzeitig wurden dialektale Wendungen und Ausdrucksmittel auch weiterhin in sprach- und sozialkritischer Funktion eingesetzt, so in den Volksstücken Ö. von Horváths.

Die Ideologisierung der Mundartdichtung im Ständestaat und später im Dritten Reich verhinderte zunächst nach 1945 eine nüchterne Auseinandersetzung mit ihr und bewirkte, dass sie bei der Kritik in die "Zweitklassigkeit" abrutschte; erst die sprachexperimentellen Texte der Wiener Gruppe, insbesonders von H. C. Artmann ("med ana schwoazzn dintn", 1958) und G. Rühm ("hosn rosn baa", 1959) erschlossen der Mundart neuerlich eine kritische Dimension. "Nua ka schmoez ned", schrieb Artmann und gab damit die Richtung für eine "neue Mundartdichtung" vor, die sich programmatisch von konventioneller Heimatliteratur ab- und der Kritik an Klischees und überkommenen, starren Denk- und Verhaltensmustern zuwandte (C. Miculik, K. Bauer, H. Haid, E. Schirhuber, O. Grabner, B. C. Bünker, T. Prix, R. Liebe, H. Leiseder, E. Jakowic und andere). Daneben knüpft ein zweiter, nach wie vor auch sehr regionalbewusster Strang der Mundartdichtung an konventionelle Formen und Inhalte an. Ähnlich verhält es sich im Bereich des Dramas: Anspruchslosen, dafür aber umso erfolgreicheren Dialektlustspielen und Schwänken (Löwinger-Bühne) steht das sozialkritische Volksstück gegenüber ("Rozznjogd", 1967 von P. Turrini, "Magic Afternoon", 1968 von W. Bauer, "A unhamlich schtorka Obgaung", 1970 von H. Sommer), das an die Tradition der österreichischen Sprachskepsis und Sprachkritik anknüpft. Eine Blüte erlebten ab 1970, gefördert durch die Medien Hörfunk und Fernsehen, Dialektlied und Dialektchanson in Österreich; erfolgreiche "Mundartliedermacher" sind P. Henisch, Georg Danzer, A. Brauer und nicht zuletzt H. C. Artmann.


Literatur: B. Martin, Mundartdichtung, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, herausgegeben von W. Kohlschmidt und W. Mohr, Band 2, 1965; M. Hornung, Bairisch-österreichische Mundartdichtung, in: ebenda; dieselbe (Hg.), Mundart und Geschichte, 1967; F. Hoffmann und J. Berlinger, Die Neue Deutsche Mundartdichtung, 1978; L. Berlinger, Das zeitgenössische deutsche Dialektgedicht, 1983; G. Reinert-Schneider, Dialektrenaissance?, 1987.


 
Hinweise zum Lexikon Abkürzungen im Lexikon
 
© Copyright Österreich-Lexikon

 

Suche nach hierher verweisenden Seiten
 
hilfe projekt aeiou des bm:bwk copyrights mail an die redaktion