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Wiener Medizinische SchuleWiener Medizinische Schule: Mit Gerard van Swieten, der 1745 nach Wien kam, begann für die Sanitätsgesetzgebung und für den medizinischen Unterricht in den österreichischen Erbländern eine neue Epoche. Bereits 1754 erhielt Wien eine medizinische Klinik, deren erste Vorstände A. de Haen und M. Stoll bahnbrechend auf medizinischem Gebiet waren. Auf L. von Auenbruggergeht die Perkussionsmethode zurück. Ein weiterer Assistent Haens, der Schwabe A. Störck, van Swietens Nachfolger als Protomedikus, gilt als Pionier der experimentellen Pharmakologie. 1784 wurde unter Kaiser Joseph II. das Allgemeine Krankenhaus in Wien eröffnet, das von nun an zur Heimat der Wiener Medizin wurde. Der Klinikvorstand J. P. Frank führte die Lehrfächer Hygiene und Gerichtsmedizin ein. Hier wirkte unter anderem J. L. Boer, der konservative Geburtshelfer, der der Natur in allem den Vorrang ließ und jede chirurgische Maßnahme in seinem Fach nach Möglichkeit vermied. 1812 schuf G. J. Beer die erste Lehrkanzel der Welt für Augenheilkunde. Im 19. Jahrhundert lehrte C. von Rokitansky, Krankheiten aus Gewebsveränderungen bei Toten zu erkennen. J. Skoda verbesserte die Perkussionsmethode Auenbruggers und die seit 1818 bekannte Auskultationsmethode (Abhorchen des Kranken mit einem Stethoskop) wesentlich. Skodas Assistent an der "Ausschlagabteilung", F. von Hebra, sah die pathologische Anatomie am Kranken selbst und begründete so die wissenschaftliche Dermatologie in Wien. I. Semmelweis, der "Retter der Mütter", hatte mit zwingender Klarheit erkannt, dass eine von außen herangebrachte Infektion die Ursache des Kindbettfiebers, ja vielleicht jeder Eiterung überhaupt, sein müsse, erst Jahrzehnte nach seinem Tod wurde durch die neue Wissenschaft der Bakteriologie der Beweis für die Richtigkeit seiner Lehre erbracht. Der bedeutendste "Psychiater" dieser Zeit war T. Meynert, der die Ursache der Geisteskrankheiten in Veränderungen des Gehirngewebes suchte. Die Anwendung des Kehlkopfspiegels machte L. Tuerck gemeinsam mit J. N. Czermak weltbekannt. 1867 folgte T. Billroth einem Ruf nach Wien. Die Antisepsis J. Listers und die eben erfundene Äthernarkose boten seinem Fach neue Bedingungen. 1874 gelang Billroth die erste vollständige Kehlkopfentfernung und 1881 die erste Magenresektion. L. Schrötter machte die Teilungsstelle der Luftröhre in die großen Bronchien erstmals zugänglich. Auch die Spiegelung des Augenhintergrunds mit dem von H. Helmholtz (1821-1894) nach den Ideen E. W. Brückes erfundenen Ophthalmoskop wurde in Wien von E. von Jaeger (1818-1884) praktikabel gemacht. F. von Arlt, C. von Stellwag-Carion (1823-1904) und später C. Koller setzten die große Tradition der Augenärzte in Wien fort. Nach den großen Fortschritten in der Chirurgie und ihren Tochterfächern in Wien führte H. Nothnagel die Innere Medizin zu einem neuen Höhepunkt. S. Basch (1837-1905) und G. Gärtner konstruierten die ersten Blutdruckmessgeräte. Die beiden Frauenärzte F. Schauta und E. Wertheim entwickelten bahnbrechende Methoden für gynäkologische Operationen. Die Schule Billroths verbreitete sich über ganz Europa, seine Assistenten wurden in viele Universitätsstädte berufen. E. Fuchs wurde durch sein in fast alle Kultursprachen übersetztes Lehrbuch der Augenheilkunde weltbekannt. J. Wagner-Jaureggs Methode der Bekämpfung einer Krankheit mit Fieber (Malariatherapie bei progressiver Paralyse) brachte ihm 1927 den Nobelpreis. K. Landsteiner entdeckte in Wien die Blutgruppen und erhielt dafür 1930 den Nobelpreis. R. Bárány erhielt diese Auszeichnung 1914 für seine Arbeiten über das Gleichgewichtsorgan. A. Lorenz begründete mit seiner unblutigen Reposition (Wiedereinrichtung) der angeborenen Hüftgelenksverrenkung und anderen Arbeiten die moderne Orthopädie. Einer der größten Herzspezialisten Europas war K. F. Wenckebach, der während und nach dem 1. Weltkrieg die Medizin. Klinik leitete; er wurde zu einem Pionier der Elektrokardiographie. G. Holzknecht verwendete die bisher hauptsächlich für die chirurgische Diagnostik gebrauchten Röntgenstrahlen auch in der Inneren Medizin. L. Freund führte die erste therapeutische Röntgenbestrahlung bei einer Hauterkrankung durch. Der Kinderarzt C. von Pirquet erfand eine serologische Untersuchungsmethode für die Tuberkulose und zeigte eine neue Gruppe von Krankheiten, die Allergien, auf, die durch Eiweißveränderung entstehen. Aufgrund der Auswirkungen des 1. Weltkriegs büßte zwar Wien seinen Rang als Zentrum der medizinischen Forschung von Weltgeltung ein, nichtsdestoweniger kann die erfolgreiche Bewahrung eines hohen medizinischen Niveaus während der wirtschaftlichen Krisenzeiten der 1. Republik, während des 2. Weltkriegs und in der Phase des Wiederaufbaus als Nachwirkung der Wiener Medizinischen Schule gesehen werden. Parallel dazu entwickelten sich auch an den Universitäten Graz und Innsbruck medizinische Schulen von internationalem Ansehen. T. Antoine, L. Arzt, L. Böhler, W. Denk, E. Deutsch, K. Fellinger, V. Frankl, H. Hoff und L. Schönbauer können nur als Beispiele für die zahlreichen Persönlichkeiten genannt werden, die im 20. Jahrhundert die Wiener Medizin geprägt haben. Literatur: T. Puschmann, Die Medicin in Wien während der letzten 100 Jahre, 1884; M. Neuburger, Die Entwicklung der Medizin in Österreich, 1918; E. Lesky, Die Wiener Medizinische Schule im 19. Jahrhundert, 21978.
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