Stefan
Zweig, Die Welt von Gestern, 1942 Aber
unsere beste Bildungsstätte für alles Neue blieb das Kaffeehaus. Um
dies zu verstehen, muss man wissen, dass das
Wiener Kaffeehaus eine Institution besonderer
Art darstellt, die mit keiner ähnlichen der Welt zu vergleichen
ist. Es ist eigentlich eine Art demokratischer, jedem für eine billige
Schale Kaffee zugänglicher Klub, wo jeder Gast für diesen kleinen Obolus
stundenlang sitzen, diskutieren, schreiben, Karten spielen, seine Post empfangen
und vor allem eine unbegrenzte Zahl von Zeitungen und Zeitschriften
konsumieren kann. In einem besseren Wiener Kaffeehaus lagen alle
Wiener Zeitungen auf und nicht nur die Wiener, sondern die des ganzen Deutschen
Reiches und die französischen und englischen und italienischen und amerikanischen,
dazu sämtliche wichtigen literarischen und künstlerischen Revuen
der Welt, der Mercure de France" nicht minder als die Neue Rundschau",
der Studio" und das Burlington Magazine". So wussten wir
alles, was in der Welt vorging, aus erster
Hand, wir erfuhren von jedem Buch, das erschien,
von jeder Aufführung, wo immer sie stattfand, und verglichen
in allen Zeitungen die Kritiken; nichts hat vielleicht so viel zur
intellektuellen Beweglichkeit und internationalen Orientierung des Österreichers
beigetragen, als dass er im Kaffeehaus sich über alle Vorgänge der
Welt so umfassend orientieren und sie zugleich im freundschaftlichen Kreise
diskutieren könnte. Täglich saßen wir dort stundenlang, und nichts
entging uns.  |  |
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